Nach Methode
Nach Herausforderung
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Für Psycholog:innen
«Ich merke gerade, s’Depressiönli klopft wieder an»
Irgendetwas legte sich wie ein Schatten über Martin und bremste ihn, obwohl es ihm «eigentlich nicht schlecht ging». Phasen vieles Nachdenkens und bestimmte Ängste gehören einfach zum Leben dazu, beruhigte er sich selbst. Als im Jahr 2017 eine hektische berufliche Phase eintrat, wurde aus der Angst, die ihn bisher als Schatten begleitete, ein Monster: «Ich hatte das Gefühl, ich müsse jetzt mehr leisten, damit man zufrieden ist mit mir. Und wenn nicht, dann verliere ich meinen Job, meine Wohnung, meine Freunde und lande auf der Strasse». Ein für Belastungsstörungen typischer Gedankenstrudel. Der Druck führte zu Schlafproblemen und einer Schwere, die jeweils morgens auf ihm lastete.
«Über Wochen startete ich mit einem tiefen Gefühl von Panik in den Tag, heute etwas zu verkacken.»
Da merkte er, dass das ständige Grübeln, das ihn schon seit Kindheit begleitete, eine neue Dimension angenommen hatte.
Bereits als Kind gehörte Martin zu denjenigen, über die man sagte, sie grübeln viel. Prüfungen bereiteten ihm schlaflose Nächte und negative Nachrichten lösten ein so tiefes Gefühl von Weltschmerz aus, dass seine Mutter ihn oft trösten musste. Während seiner Jugend und der Zeit in der Berufslehre legte sich das ein bisschen – um die 30 holte ihn das Grübeln und daraus resultierende Ängste jedoch wieder ein.
Er fasste den Vorsatz, vorerst durch Sport und Ernährung mehr auf sich selbst zu achten. Regelmässiges Training verbesserte jedoch weder sein mentales noch sein physisches Wohlbefinden. Laut Hausarzt war alles im grünen Bereich.
«Ich war teilweise fast hypochondrisch. Wenn ich zweimal nacheinander mit Kopfschmerzen erwachte, googelte ich danach und verlor mich dann in den Tiefen des Internets. Ich steigerte mich da richtig rein.»
Schlussendlich wurde festgestellt, dass das Stresshormon Cortisol bei Martin sehr hoch war, wodurch ihm bewusst wurde, dass er therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchte.
Du musst halt einfach weniger Grübeln!
Wo er früher die Schuld bei sich selbst suchte, wusste er nun, dass es nicht an ihm lag: Bei einem Erstgespräch mit einer Psychiaterin im Ambulatorium des nächsten Krankenhauses wurde ihm bestätigt, dass eine Therapie der richtige Weg sei für ihn. Ab da sprach Martin im Zweiwochentakt mit seiner Psychiaterin und im Verlaufe davon wurde ihm eine mittelschwere Depression und eine generalisierte Angststörung bestätigt. «In meinem Fall, war diese Art von Diagnose eine Erleichterung.» So erklärte sich für ihn nun endlich das ständige Grübeln in Bezug auf gesundheitliche Themen oder Existenzängste. Auch im beruflichen Umfeld war Martin zuvor immer wie unsicherer geworden und begab sich in eine Abwärtsspirale zermürbender Gedanken. Das Wissen, dass es sich um eine ernstzunehmende Belastung handelt, die aber auch behandelt werden kann, half ihm, die Therapie bewusst und motiviert anzugehen.
Mit seiner Psychiaterin fokussierte er sich auf Prägungen und Glaubenssätze:
«Wir haben in meiner Kindheit gegraben, wobei ich teilweise extrem defensiv wurde. Ich erkannte dann aber, dass es meine Eltern nicht zwingend in ein schlechtes Licht rückt, wenn ich gewisse Glaubenssätze ihretwegen entwickelt habe.»
Seine Eltern beschreibt Martin als «genügsam», bescheiden und immer stark auf Sicherheit bedacht. «Wenn ich als Jugendlicher Judo lernen oder Geld für eine Stereoanlage sparen wollte, haben sie meine Höhenflüge oft gebremst». Im Grunde fürsorgliche Fragen wie «bist du dir sicher?», «geht das?» oder «liegt das wirklich drin?» manifestierten eine bleibende Unsicherheit in Martin, die bis heute dazu führt, dass er sich und seine Entscheidungen oft hinterfragt.
Ein neuer Therapieplatz brachte neue Themen auf Martins Radar
Da im Ambulatorium nur Platz für akute Therapie war, musste er einige Monate später in einer Gruppenpraxis einen neuen passenden Psychologen suchen. «Die akuten Herausforderungen hatte ich da bereits besser im Griff». Als einfühlsamer Mann, der auch sensible Seiten hat und nicht dem Macho-Bild entspricht, hatte Martin oft das Gefühl, sich als «Softie» rechtfertigen zu müssen. «Die Therapie half mir, mich selbst mehr so zu akzeptieren wie ich bin und auch Motivation zu finden, die Dinge, die ich verändern kann, anzugehen.». Nach sechs Monaten beendete Martin die Therapie vorerst erneut, um das Gelernte selbst umzusetzen.
Im Herbst 2017 sprach Martin im Podcast «S.O.S. Sick of Silence» mit Robin Rehmann über seine Depression. «Damals merkte ich, dass es mir richtig schwerfiel, meine Depression zu verstecken. Offen darüber zu reden, war befreiend.» Diese Erfahrung legte den Grundstein für Martins späteres Engagement für die Entstigmatisierung von mentalen Belastungsstörungen.
Durchbruch mit Rollenspielen und Logosynthese am dritten Therapieplatz
Als die nächste schwere Phase heranrollte, startete er erneut eine Gesprächstherapie mit einer neuen Therapeutin. Sie konfrontierte Martin mit für ihn neuen Methoden: Rollenspiele, das Arbeiten mit Bildern sowie das Nachspielen von Situationen, halfen ihm sich selbst von Aussen zu betrachten.
«Anfangs fand ich das ultra schräg und ich sträubte mich dagegen. Es brauchte viel Überwindung meinerseits und Geduld ihrerseits.»
Rückblickend sind es jedoch genau diese anfangs unangenehmen Übungen, die Martin am meisten im Gedächtnis geblieben sind. «Mit diesen Übungen habe ich gelernt, Grenzen zu setzen und auch mal nein zu sagen. Etwas abzusagen, wenn ich mich nicht danach fühlte.»
Die Therapeutin forderte Martin stärker als andere zuvor, was für ihn nicht immer angenehm war: «Manchmal hat sie mir beispielsweise aufgetragen, beim Einkaufen eine fremde Person anzusprechen.» So half sie Martin, sich nicht aus der Gesellschaft zurückzuziehen, sondern weiter am Leben teilzunehmen. Ein Satz ist Martin dabei besonders geblieben:
«Es geht in der Therapie nicht darum, mich zu einem anderen Menschen zu machen, aber ich kann lernen, anders mit meinen Herausforderungen umzugehen. Zum Beispiel meine Sensibilität: Die gehört zu mir und die macht mich aus und hat durchaus gute Seiten.»
Eine weitere Methode, die für Martin gut funktionierte, war Logosynthese. Dabei identifizierte die Therapeutin in Gesprächen Glaubenssätze wie beispielsweise seine Überzeugung, bei der Arbeit zu viele Fehler zu machen, weshalb ihn im Geschäft bestimmt alle doof fänden. Gemeinsam machten sie Entspannungs- und Atemübungen, gefolgt von sprachlichen Formulierungen, die das Gegenteil von dem, was er glaubte, bekräftigten. «Das Nachsprechen dieser Sätze fiel mir anfangs sehr schwer, aber sie hat mich gut herausgefordert. Mit der Zeit hatte es etwas sehr Meditatives für mich und ich merkte, wie ich mit dieser Technik mein Unterbewusstsein sanft beeinflussen konnte.»
Als er mit einem Umzug nach Solothurn in ein neues Kapitel startete, hatte er das Bedürfnis, die erlernten Techniken selbst auszusetzen und sich nicht nur auf die Therapie zu verlassen. «Ich wollte nicht immer denken ‘ich gehe ja morgen hin, dann lösen wir das’.»
Mit kreativen Ressourcen und Gesprächstherapie auf dem Weg zur Besserung
Inzwischen ist über ein Jahr vergangen, seit Martin das letzte Mal in Therapie war. Ein Versuch, neu zu starten, scheiterte an der Chemie, die nicht stimmte, sowie an der Herausforderung, überhaupt einen freien Therapieplatz zu finden. «Ich merke gerade, s’Depressiönli klopft wieder an.» Viele neue Projekte, eine neue Stelle, weniger Routine – zu viele Veränderungen auf einmal bringen ein Ungleichgewicht mit sich. «Dank Therapie erkenne ich jetzt aber die Warnzeichen viel früher und kann so auch früher handeln. Ich weiss jetzt, was mir guttut. Ich weiss, Therapie wird mir jetzt wieder mehr Boden geben.»
Durch seine Depression hat Martin sich selbst gefunden. Er probierte notgedrungen neue Hobbies aus und fand darin aber neue Interessen, die im Freude bereiten.
«Man darf es nicht romantisieren, aber gleichermassen darf man das Gute, das aus einer Depression entsteht, auch nicht abwerten.»
Was Martin guttut, ist mehr Raum und Zeit für sich. Wandern zum Beispiel. Eine weitere Quelle für Energie und Wohlbefinden sind kreative Ressourcen wie die Fotografie oder das Schreiben, die er während seiner ersten schweren Phase für sich entdeckt hat. «Es hilft, meine Situation nicht totzuschweigen, sondern mit meinem Umfeld offen darüber zu reden. Auch mal was absagen und ehrlich sein, was den Grund angeht. Dabei merke ich, dass die meisten Menschen das eigentlich auch sehr gut aufnehmen und mir eben nicht übelnehmen.» Hobbies wie die Fotografie wurden inzwischen zu einer richtigen Passion. «Mein Fotoprojekt #ganzabNORMAL entstand aus den Gesprächen mit tollen Menschen, mit denen ich über Ängste und Unsicherheiten reden kann.» Nebst einem neuen Therapieplatz, ist es diese Balance zwischen dem passionierten Fotografieren und Selbstfürsorge, die Martin jetzt zu finden versucht.
Dieses Gespräch wurde im August 2022 geführt. Inzwischen hat Martin wieder einen Therapieplatz gefunden, der für in passt.
Über Martin
Martin ist 42, HR-Fachmann, Fotograf, Textschreiber und DJ. Selber betroffen von psychischen Belastungsstörungen, ist es ihm wichtig, offen dazu zu stehen und anstatt darüber zu schweigen, den Austausch mit anderen Betroffenen sowie den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Er betätigt sich auf verschiedenen Ebenen rund um das Thema psychische Gesundheit. Als Blogger, Peer, an öffentlichen Veranstaltungen und bei Projekten in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen. Mit seinem Fotoprojekt #ganzabnormal verwischt er Grenzen zwischen Positivem und Negativem, zwischen Diagnose und der individuellen Persönlichkeit der porträtierten Personen. Das Projekt soll einen Beitrag zur Entstigmatisierung in der Gesellschaft, aber auch zur Sensibilisierung im nächsten, persönlichen Umfeld beitragen.
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